Am 9. November 1989 fiel die Mauer in Berlin, am 18. März 1990 wurden die ersten freien Wahlen in der DDR nach 40 Jahren abgehalten, am 31. August des gleichen Jahres wurde der Vereinigungsvertrag zwischen beiden Teilen Deutschlands unterzeichnet und am folgenden 3. Oktober die Vereinigung vollzogen.
Das Ende der DDR als Staat, als ideologisches System und als Mitglied des Warschauer Paktes war damit besiegelt. Zugleich war es der Anfang eines ungeahnt schwierigen Prozesses des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbaus des östlichen Teiles der Bundesrepublik Deutschland.
In diesem Jahr wird der 8. Jahrestag der Vereinigung Deutschlands gefeiert werden. Das vereinigte Deutschland hatte 1990 das Erbe und damit auch die negativen Erblasten der DDR übernommen. Von 1949 bis 1989 hatte im Osten Deutschlands nicht nur ein anderer Staat existiert, sondern einer, der sich seinen Bürgern und Nachbarn gegenüber zunehmend als feindliches Staatswesen offenbarte. Diese Qualifizierung hat ihren tieferen Grund in der Nichtanerkennung der in der Geschichte der Demokratie gewachsenen Prinzipien, in der Nichtgewährung von Freiheit und Recht. Daraus folgte für den einzelnen Bürger der DDR neben dem Verlust an Lebensqualität ein Verlust an Würde und Individualität. Erst nach dem Ende der DDR wurden sich immer mehr Menschen dieser Lasten und Belastungen der vorausgegangenen 40 Jahre bewußt.
Zum zweiten Male in diesem Jahrhundert erlebten also Deutsche, wie schwierig es ist, sich der Vergangenheit einer Diktatur zu stellen. Nach dem 2. Weltkrieg hatten die alliierten Siegermächte die Aufgabe übernommen, über die Schuld derjenigen zu richten, die die Naziherrschaft getragen hatten.
Dieses Mal war es an den Deutschen selbst, sich mit den Lasten von verweigerter Verantwortung oder Schuld auseinanderzusetzen. Zum Erinnern gehört die nötige Kraft und Entschlossenheit, und deshalb ist es nicht verwunderlich, daß sich in den zurückliegenden Jahren eine uneinheitliche Haltung gegenüber der Aufgabe Erinnerung und Geschichtsaneignung gezeigt hat: Während große Teile der Bevölkerung durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit eine Abrechnung mit und-eine geistige Befreiung von der Diktatur betrieben, erschien anderen die Vergangenheitsaufarbeitung überflüssig oder gar schädlich. Wieder anderen erscheint die Vergangenheit in einem verklärten, nostalgischen Licht.
Am 29.12.1991 hatte der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit das "Stasi-Unterlagen-Gesetz" (StUG) beschlossen. Es ist in der Geschichte ohne Beispiel und entspricht dem vom Bundesverfassungsgericht formulierten Recht auf informationelle Selbstbestimmung: Erstmals bekamen damit Bürger umfassend Gelegenheit, Unterlagen einzusehen, die ein Geheimdienst über sie angefertigt hatte. Basierend auf den schon von der DDR-Volkskammer im August 1990 festgelegten Grundlagen regelt das StUG die Verwendung der MfS-Unterlagen wie folgt:
- dem einzelnen Bürger Zugang zu den über seine Person gespeicherten Informationen zu ermöglichen, damit er die Einflußnahme des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf sein persönliches Schicksal aufklären kann;
- den einzelnen davor zu schützen, daß er durch den Umgang mit den vom Staatssicherheitsdienst zu seiner Person gespeicherten Informationen in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt wird;
- die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes zu gewährleisten und zu fördern;
- öffentlichen und nicht- öffentlichen Stellen die erforderlichen Informationen für die in diesem Gesetz genannten Zwecke (z.B. für Uberprüfungen) zur Verfügung zu stellen.
Die Behörde des "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR" wurde in der jetzigen Form mit dem Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-gesetzes Anfang 1992 tätig.
Gemäß ihren gesetzlichen Aufgaben verfügt die Behörde neben der Zentralverwaltung über drei weitere Abteilungen
- Die Abteilung Archiv, in der Unterlagen der Stasi erfaßt, verwahrt und verwaltet werden
- Die Abteilung Auskunft besteht aus zwei Gruppen:
Die Referatsgruppe "Akteneinsicht" bearbeitet Anträge von Bürgern und stellt dem einzelnen die Informationen zur Verfügung, die die Staatssicherheit über ihn gespeichert hat. Außerdem bearbeitet sie Anträge auf Akteneinsicht, die von der Presse und Forschung gestellt werden.
Die Referatsgruppe "Auskunft" bearbeitet Ersuchen öffentlicher und nicht- öffentlicher Stellen, liefert also die Informationen für Uberprüfungen und bearbeitet Anträge der Justiz und von Untersuchungsausschüssen sowie für Rehabilitierungen.
- Die Abteilung Bildung und Forschung erforscht die Struktur, die Tätigkeit und die Methoden des Staatssicherheitsdienstes. Sie unterrichtet die Öffentlichkeit darüber durch Veranstaltungen und Veröffentlichungen. Ferner unterstehen ihr Dokumentationszentren, von denen es mittlerweile fünf gibt (Frankfurt/Oder, Rostock, Halle, Erfurt, Dresden). Die Einrichtung eines zentralen Dokumentationszentrums in Berlin ist in der Planung.
Die Behörde beschäftigt etwa 3100 Mitarbeiter, von denen 1800 in der Zentrale in Berlin, die restlichen 1300 in den 14 Außenstellen in den ehemaligen Bezirksstädten der DDR arbeiten.
Leiter der Behörde ist Joachim Gauck, ein protestantischer Theologe aus der ehemaligen DDR.
Der Bundesbeauftragte untersteht der Rechtsaufsicht der Bundesregierung, fachlich ist er jedoch nicht weisungsgebunden.
Damit ist er weitgehend unabhängig, da lediglich die Rechtmäßigkeit seines Handelns einer Aufsichtskontrolle unterliegt, nicht jedoch die Zweckmäßigkeit, also der Bereich, in dem der Bundesbeauftragte ein eigenes Ermessen ausüben kann oder das Gesetz Auslegungs- oder Beurteilungsspielräume läßt.
In den Archiven in der Zentrale und in den 14 Außenstellen des Bundesbeauftragten werden 180.000 laufende Regal-Meter Unterlagen verwahrt, darunter 40 Millionen Karteikarten und Hunderttausende von Bild- und Tondokumenten. Knapp 80 Kilometer Material lagern allein im Berliner Zentralarchiv, ein großer Teil davon in Bündeln und als lose Blätter. Von der Gesamtmenge des unzerstört gebliebenen Schriftgutes konnten nur etwa 58 Kilometer in geordnetem Zustand aus den Archiven des ehemaligen MfS übernommen wurden.
Die Archivare des Bundesbeauftragten konnten bis heute etwa die Hälfte des ungeordnet hinterlassenen Schriftgutes wieder für Recherchen nutzbar machen.
Die Mitarbeiter der Behörde haben ein gewaltiges Arbeitspensum zu bewältigen, denn die Zahl der Anfragen ist auch nach Jahren weiter gestiegen. Neben den durch die historische Einzigartigkeit der Materie und die strukturell bedingten Anforderungen - unter anderem die weitere Erschliessung der diffizilen MfS-Systematik, die Weiterbildung der überwiegend ostdeutschen Beschäftigten in Fragen des neuen Rechts-und Verwaltungssystems der Bundesrepublik - bestand die größte Herausforderung in der Quantität der Anträge und der steigenden qualitativen Erwartungshaltung der an die Behörde gerichteten Anfragen - die bis zum Mai 1998 1.430.000 waren.
a. Akteneinsicht
Mit der Parole "Freiheit für meine Akte" hatte die Bürgerbewegung nach dem Fall der Mauer das Bedürfnis nach persönlicher Aufarbeitung der Vergangenheit ausgedrückt. Betroffene Bürger sollten die Chance haben, sich ihre Biographien wieder anzueignen, die vom Staatssicherheitsdienst durchleuchtet, konspirativ manipuliert oder durch Diskriminierung und Haft beschädigt worden waren.
Aber das Recht auf Auskunft und Akteneinsicht haben nicht nur Betroffene, als Opfer der Staatssicherheit, sondern auch Mitarbeiter und Begünstigte des MfS.
Die in der Vergangenheit manchmal gegen die Öffnung der Akten ins Feld geführte Befürchtung, sie könne zu Verwerfungen oder gar zu Gewalt führen, hat sich nicht bewahrheitet. Vielmehr fällt es vielen Betroffenen wesentlich schwerer, in der Ungewissheit zu leben. Nach dem Lesen der Akten tritt meist an die Stelle von diffusem Mißtrauen die Kenntnis von konkreten Sachverhalten und Verantwortungen. Der Betroffene kann danach Konzequenzen ziehen, in manchen Fällen bis hin zur Zivilklage oder Strafanzeige.
Die flächendeckende konspirative Durchdringung der Gesellschaft der DDR durch das MfS zum Zwecke der Herrschaftssicherung ging zwangsläufig unter mit der Untergrabung gegenseitigen Vertrauens in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Es besteht kein Zweifel, daß die breite Aufarbeitung dieser Hinterlassenschaft der Diktatur durch persönliche Akteneinsichten den Abbau von Mißtrauen und die Herstellung einer neuen gesellschaftlichen Vertrauensbasis fördert.
b. Decknamenentschlüsselung
Inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes sind in den Akten zu Betroffenen oder Dritten in aller Regel nicht mit ihrem Klarnamen, sondern mit einem Decknamen genannt. Das Informationsinteresse eines Betroffenen oder Dritten ist daher mit der Einsicht in die Akten in die Unterlagen nur zum Teil befriedigt. Offen bleibt zunaechst die Frage, wer sich hinter der oder den Personen verbirgt, die ihn bespitzelt haben. Vielen Betroffenen ist daher eine detaillierte Aufklärung der Einflussnahme des Staatssicherheitsdienstes auf ihr persönliches Schicksal und eine Auseinandersetzung mit der Person, die über sie an das MfS berichtet hat, erst nach Offenlegung der Klarnamen möglich.
Die Entschlüsselung der Decknamen inoffizieller Mitarbeiter des SD erfordert Kenntnisse des konspirativen Systems des MfS und ist mit hohem Arbeitsaufwand verbunden. Dieses aufwendige Verfahren ist notwendig, weil der Bundesbeauftragte einen Klarnamen nur dann preisgeben darf, wenn sich die Identität eines Mitarbeiters des MfS aus den Unterlagen des SD eindeutig ergibt und sich zudem belegen läßt, daß er gerade auf den jeweiligen Antragsteller angesetzt war und über ihn berichtet hat.
c. Akteneinsicht durch nicht-öffentliche Stellen
Bereits die Volkskammer der ehemaligen DDR setzte bei der beabsichtigten Aufarbeitung der Vergangenheit einen deutlichen Schwerpunkt. Es sollte die historisch einmalige Gelegenheit genutzt werden, die Strukturen des Machtsystems zu erforschen, sie transparent zu machen und das Herrschaftswissen, das nur wenige hatten, offenzulegen. Die angestrebte Aufarbeitung der Vergangenheit auf möglichst breiter Basis erlaubte daher den Zugang zu den Akten der Forschung und den Medien.
Deren Interesse war entsprechend hoch, sodaß eigens dafür eine eigene Arbeitseinheit eingesetzt werden mußte.
Die Verwendung der Unterlagen durch die Forschung ist von größter Bedeutung, denn bei einem Forschungsvorhaben zur DDR-Geschichte kann auf die Verwendung von STASI-Unterlagen kaum verzichtet werden. Derartige Forschungsanträge werden zu einem großen Teil von Universitäten, von Parteien und Verbänden gestellt. Bemerkenswert ist, daß etwa 10 Prozent dieser Anträge von ausländischen Wissenschaftlern gestellt wurden.
Auch die Medien, allen voran die Presse, haben großes Interesse am Zugang zu den STASI-Akten: Bei der Verwendung von Unterlagen stand bisher die Aufarbeitung von Sachthemen anhand beispielhafter Einzelschicksale im Vordergrund. In letzter Zeit geht das Medieninteresse mehr auf spezifische Sachthemen (z.B. Doping, Umwelt, Isolierungslager) hin.
Im Rahmen verschiedener staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren haben die zuständigen Behörden verwendungssperren angeordnet. Das bedeutet, daß bestimmte Unterlagen für die von den zuständigen Behörden festgesetzte Dauer nicht verwendet und somit auch Antragstellern aus dem Bereich der Medien nicht zugänglich gemacht werden können. Als Beispiel sei nur der Fall "Carlos" erwähnt: Nach seiner Inhaftierung wurden beim Bundesbeauftragten zahlreiche neue Anträge - auch aus dem Ausland - zum Thema "Terrorismus", speziell zu "Carlos", eingereicht. Aufgrund der Sperrerklärung konnten Unterlagen aber nicht zur Verfügung gestellt werden.
d. Öffentliche Stellen
Auch öffentliche Stellen haben in großem Umfang die Möglichkeit der Verwendung von Stasi-Unterlagen genutzt. Die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes sahen die Überprüfung von Mitarbeitern als notwendigen Akt des demokratischen Neuaufbaus der öffentlichen Verwaltungen an. Die vom Bundesbeauftragten erstellten Mitteilungen über eine Stasi-Verstrickung sind eine wichtige Voraussetzung dafür, daß hauptamtliche Mitarbeiter und Zuträger des MfS nicht nahtlos in Verantwortungspositionen des öffentlichen Dienstes als Richter, Politiker, Lehrer oder Amtsärzte Einfluß ausüben können.
Von den überprüften Angehörigen und Bewerbern des öffentlichen Dienstes wurde im Durchschnitt bei 7 % eine frühere MfS-Verstrickung festgestellt. Überproportional hohe Werte ergaben sich bei Telekom-Mitarbeitern mit 22 % und bei früheren NVA-Soldaten mit 20%.
Zu den Gründen, die nach Prüfung der Unterlagen zu einer Entlassung belasteter Mitarbeiter führen, gehören u.a. der Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit ebenso wie etwa die Tätigkeit für das frühere MfS. Bis zum Mai 1998 waren beim Bundesbeauftragten 2.470.000 Überprüfungsersuchen eingegangen. Die Mehrzahl dieser Anträge bezog sich auf im öffentlichen Dienst Beschäftigte und hier speziell auf Angehörige der Polizei und des Zolls, Lehrer oder Justizvollzugsbeschäftigte.
Auch verschiedene parlamentarische Untersuchungsausschüsse von Bund und Ländern greifen häufig im Rahmen der Beweiserhebung auf Unterlagen des ehemaligen MfS zurück. Aufgabe dieser Untersuchungsausschüsse ist die Festlegung von Tatsachen zur Aufklärung eines Sachverhalts im Rahmen ihres Kontrollrechtes über die Exekutive.
e. Thematische Recherchen
Die Archive des Bundesbeauftragten schaffen die Grundlage für die juristische, historische und politische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes. Als eine Besonderheit gegenüber anderen staatlichen Archiven dient das Archiv des Bundesbeauftragten allerdings nicht nur der Erschließung, sondern auch der Nutzung, vor allem für die Zwecke der Strafverfolgung, für die Einsichtnahme durch die Bürger und die Nutzung durch Medien und Forschung.
Durchschnittlich gehen allen im Archiv der Zentralstelle Berlin monatlich bis zu 260 Aufträge zu thematischen Recherchen ein. Dabei sind Schwerpunktthemen u.a. die Strukturen des MfS, das Wirken des MfS im Ausland, die Zusammenarbeit mit Sicherheitsdiensten anderer Länder, Beobachtung terroristischer Organisationen oder die Einflußnahme des MfS auf die Nahostpolitik (Iran, Irak) und den Waffenhandel mit Nahost-Staaten.
Neben deutschen Interessenten aus dem nicht-öffentlichen oder öffentlichen Bereich an den Archiven des Bundesbeauftragten sind es zunehmend Medienvertreter aus dem Ausland, die sich für die Aufgaben und Arbeitsweise der Behörde interessieren. Als Motive werden die Einmaligkeit der Einrichtung, das Interesse am Umgang der Deutschen mit der Hinterlassenschaft zweier Diktaturen, aber auch die Tatsache, selbst aus einer früheren Diktatur zu stammen, genannt.
Die Entscheidung der frei gewählten Volkskammer der DDR und des Deutschen Bundestages, mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz die Voraussetzung für die historische, politische und juristische Aufarbeitung zu schaffen, hat sich aus heutiger Sicht als richtig erwiesen. Die Offenlegung der Akten dient der Mehrheit der in der DDR Unterdrückten, sie gewährt ihren Interessen Vorrang vor den Interessen der Minderheit der ehemaligen Machthaber.
Joachim Gauck, der Leiter der Behörde sagte bei einem Vortrag in München 1997:
"Wem nützt die Aufarbeitung der Geschichte, nützt sie den Opfern ? Mit den Opfern müssen wir anfangen. Wir müssen dies tun, wenn wir moralisch, intellektuell und politisch ernst genommen werden wollen. Nützt es Ihnen ? Sofern sie überlebt haben, wird es ihnen nützen ...".
Abkürzungen
STASI Staatssicherheit
MfS Ministerium für Staatssicherheit
DDR Deutsche Demokratische Republik
StUG Stasi - Unterlagen - Gesetz
NVA Nationale Volksarmee
SD Sicherheitsdienst
eichen Jahres wurde der Vereinigungsvertrag zwischen beiden Teilen Deutschlands unterzeichnet und am folgenden 3. Oktober die Vereinigung vollzogen.
Das Ende der DDR als Staat, als ideologisches System und als Mitglied des Warschauer Paktes war damit besiegelt. Zugleich war es der Anfang eines ungeahnt schwierigen Prozesses des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufbaus des östlichen Teiles der Bundesrepublik Deutschland.
In diesem Jahr wird der 8. Jahrestag der Vereinigung Deutschlands gefeiert werden. Das vereinigte Deutschland hatte 1990 das Erbe und damit auch die negativen Erblasten der DDR übernommen. Von 1949 bis 1989 hatte im Osten Deutschlands nicht nur ein anderer Staat existiert, sondern einer, der sich seinen Bürgern und Nachbarn gegenüber zunehmend als feindliches Staatswesen offenbarte. Diese Qualifizierung hat ihren tieferen Grund in der Nichtanerkennung der in der Geschichte der Demokratie gewachsenen Prinzipien, in der Nichtgewährung von Freiheit und Recht. Daraus folgte für den einzelnen Bürger der DDR neben dem Verlust an Lebensqualität ein Verlust an Würde und Individualität. Erst nach dem Ende der DDR wurden sich immer mehr Menschen dieser Lasten und Belastungen der vorausgegangenen 40 Jahre bewußt.
Zum zweiten Male in diesem Jahrhundert erlebten also Deutsche, wie schwierig es ist, sich der Vergangenheit einer Diktatur zu stellen. Nach dem 2. Weltkrieg hatten die alliierten Siegermächte die Aufgabe übernommen, über die Schuld derjenigen zu richten, die die Naziherrschaft getragen hatten.
Dieses Mal war es an den Deutschen selbst, sich mit den Lasten von verweigerter Verantwortung oder Schuld auseinanderzusetzen. Zum Erinnern gehört die nötige Kraft und Entschlossenheit, und deshalb ist es nicht verwunderlich, daß sich in den zurückliegenden Jahren eine uneinheitliche Haltung gegenüber der Aufgabe Erinnerung und Geschichtsaneignung gezeigt hat: Während große Teile der Bevölkerung durch die Beschäftigung mit der Vergangenheit eine Abrechnung mit und-eine geistige Befreiung von der Diktatur betrieben, erschien anderen die Vergangenheitsaufarbeitung überflüssig oder gar schädlich. Wieder anderen erscheint die Vergangenheit in einem verklärten, nostalgischen Licht.
Am 29.12.1991 hatte der Deutsche Bundestag mit großer Mehrheit das "Stasi-Unterlagen-Gesetz" (StUG) beschlossen. Es ist in der Geschichte ohne Beispiel und entspricht dem vom Bundesverfassungsgericht formulierten Recht auf informationelle Selbstbestimmung: Erstmals bekamen damit Bürger umfassend Gelegenheit, Unterlagen einzusehen, die ein Geheimdienst über sie angefertigt hatte. Basierend auf den schon von der DDR-Volkskammer im August 1990 festgelegten Grundlagen regelt das StUG die Verwendung der MfS-Unterlagen wie folgt:
- dem einzelnen Bürger Zugang zu den über seine Person gespeicherten Informationen zu ermöglichen, damit er die Einflußnahme des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf sein persönliches Schicksal aufklären kann;
- den einzelnen davor zu schützen, daß er durch den Umgang mit den vom Staatssicherheitsdienst zu seiner Person gespeicherten Informationen in seinem Persönlichkeitsrecht beeinträchtigt wird;
- die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes zu gewährleisten und zu fördern;
- öffentlichen und nicht- öffentlichen Stellen die erforderlichen Informationen für die in diesem Gesetz genannten Zwecke (z.B. für Uberprüfungen) zur Verfügung zu stellen.
Die Behörde des "Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR" wurde in der jetzigen Form mit dem Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-gesetzes Anfang 1992 tätig.
Gemäß ihren gesetzlichen Aufgaben verfügt die Behörde neben der Zentralverwaltung über drei weitere Abteilungen
- Die Abteilung Archiv, in der Unterlagen der Stasi erfaßt, verwahrt und verwaltet werden
- Die Abteilung Auskunft besteht aus zwei Gruppen:
Die Referatsgruppe "Akteneinsicht" bearbeitet Anträge von Bürgern und stellt dem einzelnen die Informationen zur Verfügung, die die Staatssicherheit über ihn gespeichert hat. Außerdem bearbeitet sie Anträge auf Akteneinsicht, die von der Presse und Forschung gestellt werden.
Die Referatsgruppe "Auskunft" bearbeitet Ersuchen öffentlicher und nicht- öffentlicher Stellen, liefert also die Informationen für Uberprüfungen und bearbeitet Anträge der Justiz und von Untersuchungsausschüssen sowie für Rehabilitierungen.
- Die Abteilung Bildung und Forschung erforscht die Struktur, die Tätigkeit und die Methoden des Staatssicherheitsdienstes. Sie unterrichtet die Öffentlichkeit darüber durch Veranstaltungen und Veröffentlichungen. Ferner unterstehen ihr Dokumentationszentren, von denen es mittlerweile fünf gibt (Frankfurt/Oder, Rostock, Halle, Erfurt, Dresden). Die Einrichtung eines zentralen Dokumentationszentrums in Berlin ist in der Planung.
Die Behörde beschäftigt etwa 3100 Mitarbeiter, von denen 1800 in der Zentrale in Berlin, die restlichen 1300 in den 14 Außenstellen in den ehemaligen Bezirksstädten der DDR arbeiten.
Leiter der Behörde ist Joachim Gauck, ein protestantischer Theologe aus der ehemaligen DDR.
Der Bundesbeauftragte untersteht der Rechtsaufsicht der Bundesregierung, fachlich ist er jedoch nicht weisungsgebunden.
Damit ist er weitgehend unabhängig, da lediglich die Rechtmäßigkeit seines Handelns einer Aufsichtskontrolle unterliegt, nicht jedoch die Zweckmäßigkeit, also der Bereich, in dem der Bundesbeauftragte ein eigenes Ermessen ausüben kann oder das Gesetz Auslegungs- oder Beurteilungsspielräume läßt.
In den Archiven in der Zentrale und in den 14 Außenstellen des Bundesbeauftragten werden 180.000 laufende Regal-Meter Unterlagen verwahrt, darunter 40 Millionen Karteikarten und Hunderttausende von Bild- und Tondokumenten. Knapp 80 Kilometer Material lagern allein im Berliner Zentralarchiv, ein großer Teil davon in Bündeln und als lose Blätter. Von der Gesamtmenge des unzerstört gebliebenen Schriftgutes konnten nur etwa 58 Kilometer in geordnetem Zustand aus den Archiven des ehemaligen MfS übernommen wurden.
Die Archivare des Bundesbeauftragten konnten bis heute etwa die Hälfte des ungeordnet hinterlassenen Schriftgutes wieder für Recherchen nutzbar machen.
Die Mitarbeiter der Behörde haben ein gewaltiges Arbeitspensum zu bewältigen, denn die Zahl der Anfragen ist auch nach Jahren weiter gestiegen. Neben den durch die historische Einzigartigkeit der Materie und die strukturell bedingten Anforderungen - unter anderem die weitere Erschliessung der diffizilen MfS-Systematik, die Weiterbildung der überwiegend ostdeutschen Beschäftigten in Fragen des neuen Rechts-und Verwaltungssystems der Bundesrepublik - bestand die größte Herausforderung in der Quantität der Anträge und der steigenden qualitativen Erwartungshaltung der an die Behörde gerichteten Anfragen - die bis zum Mai 1998 1.430.000 waren.
a. Akteneinsicht
Mit der Parole "Freiheit für meine Akte" hatte die Bürgerbewegung nach dem Fall der Mauer das Bedürfnis nach persönlicher Aufarbeitung der Vergangenheit ausgedrückt. Betroffene Bürger sollten die Chance haben, sich ihre Biographien wieder anzueignen, die vom Staatssicherheitsdienst durchleuchtet, konspirativ manipuliert oder durch Diskriminierung und Haft beschädigt worden waren.
Aber das Recht auf Auskunft und Akteneinsicht haben nicht nur Betroffene, als Opfer der Staatssicherheit, sondern auch Mitarbeiter und Begünstigte des MfS.
Die in der Vergangenheit manchmal gegen die Öffnung der Akten ins Feld geführte Befürchtung, sie könne zu Verwerfungen oder gar zu Gewalt führen, hat sich nicht bewahrheitet. Vielmehr fällt es vielen Betroffenen wesentlich schwerer, in der Ungewissheit zu leben. Nach dem Lesen der Akten tritt meist an die Stelle von diffusem Mißtrauen die Kenntnis von konkreten Sachverhalten und Verantwortungen. Der Betroffene kann danach Konzequenzen ziehen, in manchen Fällen bis hin zur Zivilklage oder Strafanzeige.
Die flächendeckende konspirative Durchdringung der Gesellschaft der DDR durch das MfS zum Zwecke der Herrschaftssicherung ging zwangsläufig unter mit der Untergrabung gegenseitigen Vertrauens in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Es besteht kein Zweifel, daß die breite Aufarbeitung dieser Hinterlassenschaft der Diktatur durch persönliche Akteneinsichten den Abbau von Mißtrauen und die Herstellung einer neuen gesellschaftlichen Vertrauensbasis fördert.
b. Decknamenentschlüsselung
Inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes sind in den Akten zu Betroffenen oder Dritten in aller Regel nicht mit ihrem Klarnamen, sondern mit einem Decknamen genannt. Das Informationsinteresse eines Betroffenen oder Dritten ist daher mit der Einsicht in die Akten in die Unterlagen nur zum Teil befriedigt. Offen bleibt zunaechst die Frage, wer sich hinter der oder den Personen verbirgt, die ihn bespitzelt haben. Vielen Betroffenen ist daher eine detaillierte Aufklärung der Einflussnahme des Staatssicherheitsdienstes auf ihr persönliches Schicksal und eine Auseinandersetzung mit der Person, die über sie an das MfS berichtet hat, erst nach Offenlegung der Klarnamen möglich.
Die Entschlüsselung der Decknamen inoffizieller Mitarbeiter des SD erfordert Kenntnisse des konspirativen Systems des MfS und ist mit hohem Arbeitsaufwand verbunden. Dieses aufwendige Verfahren ist notwendig, weil der Bundesbeauftragte einen Klarnamen nur dann preisgeben darf, wenn sich die Identität eines Mitarbeiters des MfS aus den Unterlagen des SD eindeutig ergibt und sich zudem belegen läßt, daß er gerade auf den jeweiligen Antragsteller angesetzt war und über ihn berichtet hat.
c. Akteneinsicht durch nicht-öffentliche Stellen
Bereits die Volkskammer der ehemaligen DDR setzte bei der beabsichtigten Aufarbeitung der Vergangenheit einen deutlichen Schwerpunkt. Es sollte die historisch einmalige Gelegenheit genutzt werden, die Strukturen des Machtsystems zu erforschen, sie transparent zu machen und das Herrschaftswissen, das nur wenige hatten, offenzulegen. Die angestrebte Aufarbeitung der Vergangenheit auf möglichst breiter Basis erlaubte daher den Zugang zu den Akten der Forschung und den Medien.
Deren Interesse war entsprechend hoch, sodaß eigens dafür eine eigene Arbeitseinheit eingesetzt werden mußte.
Die Verwendung der Unterlagen durch die Forschung ist von größter Bedeutung, denn bei einem Forschungsvorhaben zur DDR-Geschichte kann auf die Verwendung von STASI-Unterlagen kaum verzichtet werden. Derartige Forschungsanträge werden zu einem großen Teil von Universitäten, von Parteien und Verbänden gestellt. Bemerkenswert ist, daß etwa 10 Prozent dieser Anträge von ausländischen Wissenschaftlern gestellt wurden.
Auch die Medien, allen voran die Presse, haben großes Interesse am Zugang zu den STASI-Akten: Bei der Verwendung von Unterlagen stand bisher die Aufarbeitung von Sachthemen anhand beispielhafter Einzelschicksale im Vordergrund. In letzter Zeit geht das Medieninteresse mehr auf spezifische Sachthemen (z.B. Doping, Umwelt, Isolierungslager) hin.
Im Rahmen verschiedener staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsverfahren haben die zuständigen Behörden verwendungssperren angeordnet. Das bedeutet, daß bestimmte Unterlagen für die von den zuständigen Behörden festgesetzte Dauer nicht verwendet und somit auch Antragstellern aus dem Bereich der Medien nicht zugänglich gemacht werden können. Als Beispiel sei nur der Fall "Carlos" erwähnt: Nach seiner Inhaftierung wurden beim Bundesbeauftragten zahlreiche neue Anträge - auch aus dem Ausland - zum Thema "Terrorismus", speziell zu "Carlos", eingereicht. Aufgrund der Sperrerklärung konnten Unterlagen aber nicht zur Verfügung gestellt werden.
d. Öffentliche Stellen
Auch öffentliche Stellen haben in großem Umfang die Möglichkeit der Verwendung von Stasi-Unterlagen genutzt. Die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes sahen die Überprüfung von Mitarbeitern als notwendigen Akt des demokratischen Neuaufbaus der öffentlichen Verwaltungen an. Die vom Bundesbeauftragten erstellten Mitteilungen über eine Stasi-Verstrickung sind eine wichtige Voraussetzung dafür, daß hauptamtliche Mitarbeiter und Zuträger des MfS nicht nahtlos in Verantwortungspositionen des öffentlichen Dienstes als Richter, Politiker, Lehrer oder Amtsärzte Einfluß ausüben können.
Von den überprüften Angehörigen und Bewerbern des öffentlichen Dienstes wurde im Durchschnitt bei 7 % eine frühere MfS-Verstrickung festgestellt. Überproportional hohe Werte ergaben sich bei Telekom-Mitarbeitern mit 22 % und bei früheren NVA-Soldaten mit 20%.
Zu den Gründen, die nach Prüfung der Unterlagen zu einer Entlassung belasteter Mitarbeiter führen, gehören u.a. der Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit ebenso wie etwa die Tätigkeit für das frühere MfS. Bis zum Mai 1998 waren beim Bundesbeauftragten 2.470.000 Überprüfungsersuchen eingegangen. Die Mehrzahl dieser Anträge bezog sich auf im öffentlichen Dienst Beschäftigte und hier speziell auf Angehörige der Polizei und des Zolls, Lehrer oder Justizvollzugsbeschäftigte.
Auch verschiedene parlamentarische Untersuchungsausschüsse von Bund und Ländern greifen häufig im Rahmen der Beweiserhebung auf Unterlagen des ehemaligen MfS zurück. Aufgabe dieser Untersuchungsausschüsse ist die Festlegung von Tatsachen zur Aufklärung eines Sachverhalts im Rahmen ihres Kontrollrechtes über die Exekutive.
e. Thematische Recherchen
Die Archive des Bundesbeauftragten schaffen die Grundlage für die juristische, historische und politische Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes. Als eine Besonderheit gegenüber anderen staatlichen Archiven dient das Archiv des Bundesbeauftragten allerdings nicht nur der Erschließung, sondern auch der Nutzung, vor allem für die Zwecke der Strafverfolgung, für die Einsichtnahme durch die Bürger und die Nutzung durch Medien und Forschung.
Durchschnittlich gehen allen im Archiv der Zentralstelle Berlin monatlich bis zu 260 Aufträge zu thematischen Recherchen ein. Dabei sind Schwerpunktthemen u.a. die Strukturen des MfS, das Wirken des MfS im Ausland, die Zusammenarbeit mit Sicherheitsdiensten anderer Länder, Beobachtung terroristischer Organisationen oder die Einflußnahme des MfS auf die Nahostpolitik (Iran, Irak) und den Waffenhandel mit Nahost-Staaten.
Neben deutschen Interessenten aus dem nicht-öffentlichen oder öffentlichen Bereich an den Archiven des Bundesbeauftragten sind es zunehmend Medienvertreter aus dem Ausland, die sich für die Aufgaben und Arbeitsweise der Behörde interessieren. Als Motive werden die Einmaligkeit der Einrichtung, das Interesse am Umgang der Deutschen mit der Hinterlassenschaft zweier Diktaturen, aber auch die Tatsache, selbst aus einer früheren Diktatur zu stammen, genannt.
Die Entscheidung der frei gewählten Volkskammer der DDR und des Deutschen Bundestages, mit dem Stasi-Unterlagen-Gesetz die Voraussetzung für die historische, politische und juristische Aufarbeitung zu schaffen, hat sich aus heutiger Sicht als richtig erwiesen. Die Offenlegung der Akten dient der Mehrheit der in der DDR Unterdrückten, sie gewährt ihren Interessen Vorrang vor den Interessen der Minderheit der ehemaligen Machthaber.
Joachim Gauck, der Leiter der Behörde sagte bei einem Vortrag in München 1997:
"Wem nützt die Aufarbeitung der Geschichte, nützt sie den Opfern ? Mit den Opfern müssen wir anfangen. Wir müssen dies tun, wenn wir moralisch, intellektuell und politisch ernst genommen werden wollen. Nützt es Ihnen ? Sofern sie überlebt haben, wird es ihnen nützen ...".
Abkürzungen
STASI Staatssicherheit
MfS Ministerium für Staatssicherheit
DDR Deutsche Demokratische Republik
StUG Stasi - Unterlagen - Gesetz
NVA Nationale Volksarmee
SD Sicherheitsdienst
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